Alle Läden sind geschlossen, keine Passanten unterwegs, die Neonazis ziehen durch leere Straßen, niemand schenkt ihnen Beachtung. So werden sie schnell die Lust am Demonstrieren verlieren. Warum also nicht?

Durch einen Rückzug der Zivilgesellschaft werden sich weder Neonazis noch pseudolinke Gewalttäter vom Kommen abhalten lassen. Beide folgen nicht dem Aufruf zu einer angemeldeten und zivilgesellschaftlich getragenen Kundgebung, sondern agieren selbstständig und notfalls kurzfristig, wie schon am 6. Oktober 2012, als ein Teil der Neonazidemonstration vor offiziellem Beginn und außerhalb der angekündigten Strecke laut eigenen Angaben von Faurndau aus „auf Göppingen marschierte“ oder sich Krawallmacher über die ganze Stadt verteilten und versuchten, die Polizeiabsperrungen unter Anwendung von Gewalt zu überwinden. Selbst den eventorientierten Autonomen Nationalisten geht es nicht nur um das Spektakel. Gelungen ist für sie jede Demonstration, bei der sie von möglichst wenig Protest gestört werden. Jede gelungene Demonstration wiederum ist ein Stück mehr Selbstbestätigung. Während Politik und Zivilgesellschaft in Göppingen noch über das Zusperren aller Geschäfte streiten, mobilisieren die Neonazis bereits auf den Aufmarsch am 12. Oktober, z.B. mittels eigener Demoseite im Internet, die schon jetzt rechtsautonome Unterstützergruppierungen aus Thüringen, Sachsen, Niedersachsen, Bayern und Hessen umfasst.

Mit dem Ignorieren des Neonaziaufmarsches würden Parolen wie „Nationaler Sozialismus jetzt!“, „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen!“ oder „Schlagt den Roten die Schädeldecke ein!“, wie sie auch am 6. Oktober in Göppingen gerufen wurden, unwidersprochen stehen gelassen. Wenn aber diejenigen, die anderer Meinung sind schweigen, besteht die Gefahr, dass solche Parolen (wieder) alltäglich werden. Fehlenden Widerspruch der Demokraten konnte sich schon die Weimarer Republik nicht leisten.

Wenn nun dazu aufgerufen wird, jegliche Demonstration am 12. Oktober 2013 zu verhindern, wobei Demonstrationen mit „Querulantentum“ und „Extremismus“ gleichgesetzt werden, führt sich die Demokratie selbst ad absurdum. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist eines der wichtigsten im Grundgesetz. Wer sich gegen Neonazis oder auch „Extremisten“ im Allgemeinen stellt, tut dies doch gerade weil ihre Ideologie so sehr im Widerspruch zu jeglichen demokratischen Werten, Rechten und Freiheiten steht. Die demokratische Zivilgesellschaft sollte sich nicht durch die Forderung nach einem Totalverbot von Versammlungen dazu hinreißen lassen, selbst diejenigen Werte und Rechte auszuhebeln und sich selbst abzugraben, die sie doch eigentlich zu schützen versucht. Das wäre ein weit schlimmerer Schaden für die Demokratie als ihn eine eskalierte Demonstration je anrichten könnte.

Letztlich sind die Neonazis auch kein „Unheil“, das ein Mal im Jahr über die Stadt hereinbricht. Die Gruppierung der Autonomen Nationalisten Göppingen ist vor Ort im Alltag präsent. Wer hinschaut, wenn er durch die Straßen des Landkreises geht, wird schnell auf Nazi-Schmierereien oder die an Laternenpfählen und Verkehrsschildern angebrachten Aufkleber mit Parolen wie „Israel mordet“, „kein Fußbreit den Antideutschen“, „Göppingen ist unsere Stadt“ oder aktuell „Werde aktiv im nationalen Widerstand“ stoßen. Die Neonaziaufmärsche finden nicht in Göppingen statt, weil Neonazis aus anderen Regionen zufällig diese Stadt auserkoren haben. Die Neonaziaufmärsche finden hier statt, weil die Autonomen Nationalisten Göppingen in den Jahren 2010 bis 2011 nahezu ungesehen und ungestört eine anwachsende Gruppe, die nötigen Kontakte in andere Bundesländer und das nötige Selbstbewusstsein aufbauen konnten, um mit dem Neonaziaufmarsch am 6. Oktober 2012 mit knapp 160 Teilnehmern, die laut baden-württembergischem Verfassungsschutzbericht zweitgrößte rechtsextreme Demonstration landesweit zu inszenieren. Die Neonaziaufmärsche finden hier statt, weil ein Teil der Neonazis hier wohnt und dieser geht, nach anfangs eher klandestinen Sachbeschädigungen, Drohungen und körperlichen Angriffen gegen politische Gegner, mittlerweile sogar so weit, ohne Angst vor Konsequenzen an einem Einkaufssamstag um die Mittagszeit auf dem öffentlichsten Platz der Stadt eine friedliche Kundgebung unseres Bündnisses mit Gewalt zu stören.

Die Ignoranz des Neonaziaufmarsches wäre folglich auch Ignoranz des Problems an sich und damit das völlig falsche Signal. Nur wenn es gelingt, dass Politik und Zivilgesellschaft im Rahmen einer gemeinsamen und friedlichen Demonstration zusammenstehen, können wir ein echtes Zeichen setzen, denn eines wollen wir sicher alle nicht: den Neonazis bei der Errichtung der angestrebten „nationalbefreiten Zone“ behilflich sein und sei es auch nur für einen Tag.